Geschichten, die grammatische Regeln vermitteln
Plural
Die Wunderhand
Johannes Merkel
1.
Ihr wisst ja sicher, was „schwanger sein“ bedeutet? Das bedeutet, dass eine Frau ein Kind im Bauch trägt.
Meine Geschichte handelt von einer schwangeren Frau, die im Zug fuhr, um ihre Tante zu besuchen. Im Zugabteil saß ihr gegenüber eine uralte Dame, die hatte tausend Falten im Gesicht. Sie betrachtete die schwangere Frau und fragte sie plötzlich: „Möchten Sie, dass Ihr Kind was ganz Besonderes wird?“
Welche Mama will denn nicht, dass ihr Kind was Besonderes wird? Die Schwangere nickte. Da sagte die alte Dame: „Ihr Kind wird eine Wunderhand bekommen.“
„Wie bitte?“ fragte die Frau. „Was meinen Sie damit?“
„Alle Dinge, die Ihr Kind mit der bloßen linken Hand berühren wird, werden sich auf der Stelle verdoppeln. Merken Sie sich das! Mit der bloßen linken Hand!“
Bevor die Schwangere noch einmal nachfragen konnte, war die komische Alte verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Da merkte die schwangere Frau, dass das keine gewöhnliche Frau war. Sie dachte: „Mal sehen, ob mein Kidn was Besoneres wird.“ Aber sie erzählte niemandem von der alten Dame, und was sie ihr im Zug gesagt hatte. Und bald hatte sie es selber schon fast vergessen.
2.
Drei Monate später brachte diese Frau einen gesunden Jungen zur Welt. Sie freute sich, nahm das Baby in den Arm und streichelte es. Da fiel ihr die Alte im Zug wieder ein. Sie nahm eine Rassel und hielt sie dem Baby hin. Das Baby erwischte sie mit der rechten Hand. Und was passierte? Nichts. „Na siehst du!“ sagte sie sich. „Die komische Alte hat doch nur Quatsch erzählt!“
Könnt ihr euch denken, warum nichts passierte?
Dann aber patschte das Baby mit der linken Hand auf die Rassel. Und was hatte es plötzlich in der Hand? Zwei Rasseln. Da wusste die Mama, dass die Alte im Zug doch keinen Quatsch erzählt hatte.
„Wunderbar!“ dachte die junge Mutter. „Da kann ich mir ja einfach alles, was ich für das Baby brauche, verdoppeln lassen und muss es nur einmal kaufen.“
Das war wirklich praktisch: Sie kaufte sich immer nur ein Exemplar von allem, was sie brauchte, ließ es von ihrem Baby betatschen und schon stand ein zweites Exemplar vor ihr. Wenn sie zum Beispiel ein Glas Babybrei brauchte, hielt sie sein Händchen an das Glas, und was passierte? Plötzlich stand da ein zweites Glas Babybrei, das sie aufwärmte, um ihn zu füttern.
Ihr könnt euch ja denken, was sie für das Baby alles brauchte und von ihm verdoppeln ließ.
3.
Solange der Junge ein Baby war, ging alles gut. Er konnte ja nur anfassen, was ihm die Mutter zum Anfassen gab. Aber dann wurde der Junge größer und lernte laufen. Da lief er von der Mutter weg und wie alle kleinen Kinder fing er an, alles zu betatschen. Wenn die Mutter zum Beispiel gerade in der Küche beschäftigt war, richtete sich der Junge auf und lief einige Schritte. Weil er aber noch nicht so gut laufen konnte, torkelte er bald und hielt sich im letzten Moment mit beiden Händen an der Stehlampe fest. Und was passierte? Plötzlich standen da zwei Stehlampen. Dann ließ er die Stehlampe los, lief wieder ein paar Schritte, torkelte und hielt sich im letzten Moment an den Tischbeinen fest. Und was passierte? Plötzlich standen da zwei Tische. Dann lief er wieder los, erwischte einen Stuhl, um sich daran festzuhalten. Und was stand da? Zwei Stühle.
Was staunte die Mutter, als sie wieder nach ihrem Jungen sah! Sie dachte sich: „Das kommt mir gerade recht!“ Sie hatte nur einen Stuhl gehabt, jetzt standen da fünf Stühle. Und einen zweiten Tisch und eine zweite Stehlampe konnte sie doch auch gut gebrauchen. Darum ließ sie ihren Jungen anfassen, was er anfassen wollte. Ihr könnt euch ausmalen, was der Junge in der Wohnung noch alles antatschte und dabei verdoppelte.
Aber bald wurde es ungemütlich in der Wohnung. Da standen inzwischen 23 Stühle herum, 17 Stehlampen, sechs Eckbänke, die die Frau bis zur Decke übereinander gestellt hatte, damit sie überhaupt noch das Zimmer betreten konnte. An der Wand waren acht Sofas übereinander gestapelt, drei Tische standen einer auf dem andern, und so weiter. An einem Tisch zu essen, daran war nicht mehr zu denken, die Frau musste sich dran gewöhnen, sich unter den Tisch zu setzen.
Schließlich musste sie sogar auf allen Vieren in ihre Wohnung kriechen. So konnte das nicht weitergehen! Inzwischen war es Winter geworden und um rauszugehen, zog sie ihrem Jungen Handschuhe an. Und dabei beobachtete sie eines Tages, wie er mit dem Handschuh der linken Hand eine Tasche anfasste, und was passierte? Gar nichts, es blieb bei einer einzigen Tasche. Der Stoff zwischen seiner Hand und den Sachen, die sie berürhte, verhinderte, dass sich die Sachen verdoppelten. Von da an zog sie dem Jungen immer einen dicken Handschuh über die Wunderhand, damit er keine unerwünschten Wunder mehr anrichten konnte, und das nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer.
4.
Aber welches Kind möchte denn den ganzen Tag einen Handschuh tragen? Vor allem im Sommer, wenn es heiß wird und man unter dem Handschuh schwitzt? Aber die Mutter achtete immer sehr genau darauf, dass er seinen Handschuh an der linken Hand trug. Und wenn sie gefragt wurde, warum der arme Junge bei der Hitze mit einem Handschuh herumlaufen müsse, dann behauptete sie, wegen einem Anschlag an der Hand. Aber manchmal achtete sie einen Moment lang nicht darauf, und dann passierte es.
Zum Beispiel stand sie eines Tages mit dem Kind an einer Ampel, um zu warten, dass es grün wurde. Was musste sie da sehen? Der Junge hatte sich den lästigen Handschuh ausgezogen und tatschte mit der linken Hand gegen den Pfosten, an dem die Ampel angebracht war. Plötzlich standen da zwei Ampelpfosten.
Oder sie wartete mit ihm an einer Bushaltestelle. Der Bus hält, der Junge läuft hin und tatscht auf die Tür. Plötzlich standen da zwei Busse. Der Busfahrer, der gerade vor dem Bus stand, war ganz verwirrt. Er wusste nicht mehr, in welchen Bus er einsteigen sollte. Damit sie keine Schererein bekam, nahm sie ihr Wunderkind ganz schnell an der Hand und verschwand mit ihm.
Und das war nicht das einzige Mal, dass der Junge sie in verrückte Situationen brachte. Ihr könnt euch denken, was der guten Frau mit ihrem Wunderkind noch alles passierte.
5.
„Mein Gott, was wird er mir noch alles anrichten?“ dachte die Mutter und von da an band sie ihm den Handschuh so fest, dass er ihn nicht mehr allein ausziehen konnte. Aber es tat ihr ja auch leid, dass der Junge ständig mit einem Handschuh herumlaufen musste. Sie überlegte, wo er den Handschuh ausziehen könnte, ohne mit seiner Wunderhand etwas anzurichten. Und da kam ihr eine gute Idee.
Sie ging zu einem Kaufhaus und fragte nach dem Direktor. Dem erklärte sie: „Mein Sohn hat eine Wunderhand, Damit kann er Waren , die Sie im Kaufhaus führen, verdoppeln.“
Der Direktor dachte natürlich, sie würde ihn verkohlen, aber als sie dem Jungen den linken Handschuh auszog, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Er bot ihr sofort einen Tausender für jeden Tag, an dem sie ihm den Jungen mit der Wunderhand überlassen würde. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie niemandem davon erzählte.
Ahnt ihr, was der Kaufhausdirektor vorhatte? „Wunderbar! Ich werde ihm Geldscheine in die Hand geben. Die soll er mir verdoppeln, dann kann ich mir das ganze Kaufhaus und den Ärger mit den faulen Angestellten sparen. Ich mache die Bude dicht und werde trotzdem stinkreich!“
Als er dann mit dem Jungen allein war, hielt er ihm einen Tausend-Euro-Schein hin. Der Junge musste ihn mit seiner Wunderhand anfassen. Und was passierte? Nichts. Geldscheine sind nämlich keine normalen Gegenstände. Offenbar hatte die Alte im Zug nicht gewollt, dass der Junge auch Geldscheine verdoppeln konnte.
„Na schön!“ dachte ich der Kaufhausdirektor. „Dann muss er mir eben die Waren verdoppeln. Ich krieg sie fast umsonst, und dabei werde ich auch stinkreich.“
Von da an brachte die Mutter ihren Jungen jeden Morgen für drei Stunden ins Kaufhaus, damit er alles verdoppelte, was ihm hingestellt wurde. Und das war eine ganze Menge. Was glaubt ihr, was sie ihm da alles zum Verdoppeln brachten?
6.
Jeden Morgen im Kaufhaus herumstehen und anfassen, was ihm hingestellt wurde, das war natürlich stinklangweilig! Und wenn er endlich aus dem Kaufhaus rauskam, musste er im Sommer wie im Winter wieder den linken Handschuh tragen, das war kaum zum Aushalten! Und eines Tages hatte der Junge die blöde Anfasserei restlos satt. Er schützte vor, aufs Klo gehen zu müssen, aber das stimmte gar nicht, er wollte einfach nichts mehr anfassen müssen. Im Klo setzte er sich auf den geschlossenen Klodeckel und heulte. Plötzlich stand eine seltsame alte Dame vor ihm, die hatte tausend Falten im Gesicht und fragte: „Na Junge, was heulst du denn so hemmungslos?“
„Ist das vielleicht nicht zum Heulen?“ jammerte der Junge. „Den ganzen Tag muss ich im Kaufhaus blödes Zeug antatschen und, wenn ich raus komm, muss ich einen blöden Handschuh tragen!“
Da meinte die alte Dame: „Na sowas! Daran habe ich ja gar nicht gedacht. Dann machen wir das eben anders! In Zukunft sollen sich Sachen, die du anfasst nur noch verdoppeln, wenn du einen Spruch dazu sagst. Aber den merk dir gut! Handzauberei, aus eins mach zwei!“ Und damit verschwand Alte.
Der Junge ging brav zurück und betatschte alles, was man anschleppte. Was glaubt ihr, brachten sie ihm jetzt alles zum Anfassen?
Aber was passierte? Nichts, überhaupt nichts mehr. Denn der Junge hütete sich, den Zauberspruch dazu zu sagen. Da war der Kaufhausdirektor sauer und schickte ihn nach Hause.
Seitdem konnte der Junge alles anfassen, ohne dass es sich gleich verdoppelte, und einen Handschuh musste er auch nicht mehr tragen. Denn Sachen, die er anfasste, verdoppelten sich nur noch, wenn er seinen Spruch dazu sagte. Wisst ihr noch, wie der Zauberspruch lautete? Und von da an verdoppelte er nur noch Sachen, die er selber für sich oder seine Freunde brauchte. Aber das machte er im Geheimen und verriet niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen von seiner Wundergabe.
[Sprachförderung: Pluralbildung]