Die intellektuelle Löwin
In der Serengeti lebte einst eine Löwin, deren Rudel einen humanitär eingestellten Ernährungswissenschaftler vom Deutschen Entwicklungsdienst gefressen hatte. Besonders sein Hirn hatte ihr geschmeckt, und sie verfügte nun über alles Wissen dieser Welt, was Nährwert, Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe und anderes Zeug betrifft, was so im Futter zu sein pflegt.
Bei der nächsten Treibjagd auf ein Gnu-Baby, welches das Tempo der Herde nicht hatte durchhalten können, hielt sie mitten im Lauf inne und schüttelte energisch den Kopf.
„Was’n mit dir?“, fragte die Kollegin, die normalerweise den ultimativen Biss in die Halsschlagader der Beute ausführte und bremste, dass das Gras unter ihren Pfoten entwurzelte. „Keine Kraft mehr?“
„Ach was“, rief unsere Löwin verächtlich. „Kraft genug. Bei dem parasitären Verhalten, was wir an den Tag legen, haben wir immer genügend Energie für die Jagd. Nein, es kotzt mich einfach an, dass wir die Pflanzenfresser konsumieren, die für uns die Vorarbeit leisten.“
„Unsinn“, meinte die Kollegin. „Vorarbeit, wieso Vorarbeit?“
Das Gnu war auf und davon, weil die Jagd-Logistik des Rudels ohne die Hilfe der beiden nicht hatte aufgehen können. Alle Kolleginnen, eine nach der anderen, versammelten sich um unsere Protagonistin und lauschten erstaunt ihrer Botschaft.
„Seht doch mal“, rief unsere Löwin. „Die Pflanzenfresser nehmen die sechsfache Menge an Futter zu sich wie wir, damit sie sich entwickeln und leben können. Die müssen den ganzen Tag fressen, verdauen und verwerten, und genau deshalb haben sie nicht genügend Aufmerksamkeit für uns, wenn wir ihnen auflauern, sie auseinander treiben, um dann das schwächste Exemplar von ihnen herunter zu schlingen.“
„So ist das nun mal“, rief der Löwenpascha, der inzwischen seinen schattigen Platz unter dem Affenbrotbaum verlassen hatte um halb amüsiert, halb neugierig mit zu bekommen, was die Weiber da diskutierten. „Die Natur ist grausam, und ich möchte nicht wissen, wie viele Insekten, Maden und Würmer die Pflanzenfresser auf dem Gewissen haben, wenn sie dieses scheußliche Gras in sich hinein stopfen.“
Das Argument verfing nicht besonders, zumal alle Löwinnen wussten, dass die Pflanzenfresser tierisches Leben aus Versehen vernichteten, während die Karnivoren dies mit Absicht taten.
Eine der Kolleginnen schubste etwas wuschelig-Knuddeliges nach vorn.
„Mama“, rief das erst 5 Wochen alte Baby der Löwin mit seiner hellen Stimme. Sie hatte es erst nach dem Konsum des Ernährungswissenschaftlers gezeugt, und offensichtlich hatte sich der Sinneswandel unserer Löwin nicht nur 1:1 übernommen, sondern sogar noch weiter entwickelt. „Mama, was du da erzählst, ist nicht zuende gedacht.“
Die Kolleginnen brummten Beifall und der Löwenpascha warf sich in die Brust, weil er davon überzeugt war, dass alle erblich bedingten Fortschritte immer nur von den Männern herrühren.
„Kind, wenn du eins hättest, würde ich sagen, räum dein Zimmer auf“, meinte unsere Löwin. „Dieses altkluge Geschwätz ständig von dir...“
„Mama, wenn du kein Fleisch frisst, wird deine Milch zuerst fettarm, vielleicht sogar reduziert auf 0,3%, ich kann nicht wachsen, werde sterben, und diese dämlichen Geier, die euch immer das Futter streitig machen, werden mich verzehren.“
„Das wäre gegen die Gesetze der Natur“, fand der Pascha. „Wir stehen in der Nahrungskette an erster Stelle. Wir, vor allem ich, kriegen immer den Löwenanteil der Beute.“
Unsre Löwin schluckte schwer an dieser Botschaft. Allein die Vorstellung, sie könne ihr Baby nicht mehr ernähren, es würde sterben und anderen, niederen Tieren zum Fraße dienen, überzeugte sie.
„Kommt, lasst uns aufbrechen und für Nahrung sorgen“, rief sie, nun endgültig überzeugt, im Tonfall eines Feldherrn, der seine Soldaten auf den Heldentod einschwört. „Es soll der fetteste aller Pflanzenfresser sein, und er soll uns schmecken.“
Eine Herde Zebras ganz in der Nähe bekam diesen Enthusiasmus hautnah zu spüren, und die Löwen reduzierten die Familien der Gestreiften um drei hoffnungsvolle Kinderchen.
Drum merke: wenn du das Argument einer Frau entkräften möchtest, schicke ein Kind vor. Dagegen ist jede machtlos.
© Jürgen Berndt-Lüders