Die Reise der Palme
Blau ist meine Lieblingsfarbe. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Für viele Menschen ist Blau eine Lieblingsfarbe. Doch ich bin kein Mensch. Ich bin eine Palme. Genauer gesagt, eine Madagaskarpalme. Und ich lebe in einem bemalten Topf mit Erde auf einer Fensterbank, inmitten von Kerzen, Windlichtern, einer Lampe und einem kleinen Buddha aus Messing.
Die Fensterbank steht vor einem großen Fenster, von dem aus ich den Himmel sehen kann.
Der ist Blau. Und deshalb ist Blau meine Lieblingsfarbe.
Die Frau, die mich immer dann gießt, wenn ich Durst habe („woher weiß sie nur, dass ich Durst habe??“) sagt mir jeden Tag, dass ich die schönste Palme der Welt sei. Sie erzählt mir manchmal von dem fernen Land Madagaskar, von wo ich stamme und dass es dort so wunderbar schön sei. Viel schöner als anderswo. Und während meine Wurzeln gierig das Wasser einsaugen, mit dem sie die Erde gießt, die mich umgibt, saugt meine Seele jedes Wort auf, das sie über mein Heimaltland Madagaskar sagt. Das muss ein wunderbares Land sein, so lebendig, so voller Farben und Licht und Leben.
So wuchs die Sehnsucht in mir, dieses Land zu suchen.
Eine Pflanze kann nicht einfach einen Koffer packen und verreisen wie ein Mensch. Nein.
Aber eine Pflanze kann träumen. Und so träumte ich meine Reise in das Land meiner Sehnsucht. Nach Madagaskar.
Die Reise war lang und beschwerlich. Viele Tage und Nächte vergingen, bis ich endlich angekommen war. MADAGASKAR. Herrliche, blühende Bäume, Blumen, deren Duft die Sinne schwinden lässt, fremde Geräusche und fremde Gerüche hielten mich gefangen und verzauberten mich vom ersten Moment an. Die Insel schien mir seltsam vertraut. So, als sei ich schon mal da gewesen. Natürlich, das war ich ja auch. Als ganz junge Palme wurde ich in ein fernes Land verschifft, dorthin, wo ich heute noch lebe und geliebt werde.
Und doch empfand ich Madagaskar als meine Heimat. Ich machte mich auf den Weg, meine Familie zu finden. Viele fremde Pflanzen und Tiere begegneten mir. Lebewesen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Auch verstand ich ihre Sprache nicht. Eines Tages begegnete ich einer anderen Madagaskarpalme. „Hallo“, sagte ich, „ich komme aus Ludwigsburg und ich bin die schönste Madagaskarpalme der Welt!“ „So, so“, antwortete die andere Palme „du willst also die schönste Madagaskarpalme der Welt sein? Dass ich nicht lache! Hier auf unserer Insel leben tausende anderer Palmen, die hunderttausendmal schöner sind als du“
Das verletzte die Madagaskarpalme tief, denn sie dachte bis dahin, die einzige ihrer Art zu sein. Schnell beschloss sie, aus ihrem Traum wieder aufzuwachen und freute sich sehr, als morgens die Frau wieder kam, sie liebevoll goss und ihr zärtlich zuflüsterte:
„Du bist für mich die schönste Madagaskarpalme der Welt!!!“
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